Siedlungswerk Bayer

Kluge Unternehmensstrategie ließ zusätzlich zu dem seit 1895 forcierten Siedlungsbau im Jahr 1901 einen Wohlfahrtspark anlegen mit einem großen Angebot an sozialer Infrastruktur.

Carl Duisberg hatte die Konzeption einer Industriestadt als Verbindung von Chemischer Fabrik und Wohnbauten mit zugehöriger Infrastruktur entwickelt. Die rasch wachsende Zahl an Arbeitern konnte so an das sich zum Großbetrieb entwickelnde Werk gebunden werden.

Als die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. 1892 die Ultramarinfabrik von Carl Leverkus in Wiesdorf am Rhein erwarb, hatte die Fabrik mit 276 Beschäftigten noch keine besonders großen Probleme mit der Unterbringung der Beschäftigten. Unterkunftsmöglichkeiten boten die umliegenden Orte. Allerdings war absehbar, dass die Dörfer Wiesdorf und Bürrig mit ihren 3396 Einwohnern eine deutlich steigende Zahl von Werksangehörigen nicht aufnehmen konnten. 

Einbezogen in die Wohnraumversorgung waren auch die linksrheinischen und im Norden anschließenden Gemeinden. Eine Dampfschiffahrtslinie verband seit 1888 Wiesdorf mit Köln und den Rheinorten Rheindorf, Hitdorf, Merkenich, Flittard sowie linksrheinisch mit Niehl und Langel. Zudem gab es fünf Personenfähren zwischen den beiden Rheinufern.

Da ein ausreichendes Wohnungsangebot durch private Bautätigkeit in Wiesdorf und Bürrig nicht zu erwarten war, organisierte das Unternehmen verbesserte Transportmöglichkeiten in die umliegenden Orte. 1896-98 wurde eine Kleinbahn nach (Köln-) Mülheim angelegt. Die Bahn diente hauptsächlich dem Transport von Gütern, wurde aber auch zur Beförderung der in Mülheim und der entlang der Strecke wohnenden Arbeiter genutzt. 1902-10 fuhren im Schnitt 34 Züge pro Tag mit mehr als 100 beladenen Güterwagen und beförderten zudem 1300 Personen. 

Für viele Arbeiter waren aber täglich anfallende Fahrtkosten in der Kleinbahn oder mit dem Dampfschiff nicht erschwinglich. Werksnahe Wohnungen waren notwendig. Die rasante Entwicklung der von Carl Leverkus gegründeten Chemiefabrik am Rhein zum Großbetrieb war mit Vorlage und Verabschiedung der „Denkschrift über den Aufbau und die Organisation der Farbenwerke in Leverkusen“ von Carl Duisberg Anfang 1895 vorgezeichnet. Unmittelbar danach begann der Siedlungsbau. Es erwies sich als wichtig, die im ganzen Reich durch Agenten in Hessen, im Siegerland und in Ostpreußen geworbenen Arbeiter fest an das Werk zu binden. Der hohen Fluktuation der zwischen den Fabriken am Rhein hin und her wechselnden Wanderarbeiter konnten gute Wohnverhältnisse entgegenwirken. Dies war die wichtigste Aufgabe des Werkswohnungsbaus in Leverkusen-Wiesdorf.

Im gleichen Jahr  begann 1895 der Bau der Kolonie I und der Beamtensiedlung, die eine im Norden des Werksgeländes, dem dörflichen Wiesdorf zugeordnet und die andere im Osten an der Kaiser-Wilhelm-Allee. 

Die Kolonie I war als Arbeitersiedlung innerhalb von zwei Jahren fertiggestellt. Die Backsteinhäuser folgten der Ästhetik des Industriebaus und waren aufgereiht an einem rasterartigen Straßennetz. Zur Siedlung gehörte ein Ledigenheim und seit 1897 eine Konsumanstalt. Die Siedlung wurde in den 1980er Jahren abgebrochen.

Kolonie I, Barmer Straße.
Quelle: Bayer AG, Bayer Archives Leverkusen
Kolonie I (Julia), Lageplan um 1900.
Quelle: Bayer AG, Bayer Archives Leverkusen

Die Beamtensiedlung entstand ab 1895 war an der Kaiser-Wilhelm-Allee den Repräsentationsbauten besonders aber dem Kasino zugeordnet. Die werksnahe Unterkunft der Angestellten oder in der damaligen Namensgebung der Werksbeamten lag im Interesse des Unternehmens, weil in dringenden Fällen die entsprechenden Entscheidungsträger schnell im Werk sein sollten.

Beamtensiedlung. Ausschnitt aus einem Ölbild von Otto Bollhagen um 1916.
Quelle: Bayer AG, Bayer Archives Leverkusen

Zudem gehörte zu den Repräsentationsbauten an der Kaiser-Wilhelm-Allee mit dem Kasino ein wichtiges Element der sozialen Infrastruktur für die Besserverdienenden im Werk. Das Kasino war anfangs in einer der Leverkus-Villen untergebracht bis 1912-13 ein speziell auf diese Nutzung zugeschnittenen Gebäude gegenüber der Hauptverwaltung entstand. Fortlaufend wurde in der nicht weit entfernt liegenden Beamtensiedlung die Bautätigkeit fortgesetzt bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinein. 

Die Kolonie II entstand 1901 bis 1923. Es folgte die Siedlung Eigenheim ab 1911 und dann die Kolonie III ab 1913. Die Hauptbautätigkeit dauerte auch in diesen beiden Siedlungen bis 1923 an.

Bayersiedlungen 1926.
Quelle: Bayer AG, Bayer Archives Leverkusen

Ein Kranz von Siedlungen umgab das Werk bei Carl Duisbergs Tod im Jahr 1935. Duisberg hatte sich stark mit dem Wohnungsbau beschäftigt und ließ an der Kolonie II ein voll eingerichtetes Musterhaus errichten, um den Siedlungsbewohnern Vorstellungen über eine sinnvolle Einrichtung ihrer Wohnungen zu vermitteln. In Wettbewerben wurden ordentlich gepflegte Häuser und Gärten prämiert. Als Preise wurden Möbelstücke aus dem Musterhaus vergeben. 

Fraglich war in den Siedlungen der entstehenden Industriestädte immer ein ausreichendes Angebot mit Einrichtungen der sozialen Infrastruktur. Mit der Kolonie II wurde ab 1901 auch ein Wohlfahrtspark angelegt. Eingebunden in die Grünflächen entstanden Häuser für ein Wöchnerinnenheim, Gesellschafts- und Schwesternhaus und Haushaltungsschule. Höhe- und Mittelpunkt der Sozialeinrichtungen wurde hier das 1907/08 erbaute Erholungshaus mit einem Festsaal für 1000 Personen, Proben- und Unterrichtsräumen, Lesehalle, Restaurant, Doppel-Kegelbahn und Billardzimmer.

Auch das Haupthaus der von Bayer erbauten Konsumanstalten entstand 1911 am Rand der Kolonie II. Es war die Zentrale für viele weitere Filialen in den Orten rings um Wiesdorf. Das 1921-25 entstandene Kaufhaus am Pförtner II ist ein noch sichtbares Zeichen für die Anstrengungen des Unternehmens zur Versorgung der Werksangehörigen und ihrer Familien.

Duisberg selbst schätzte seine Konzeption einer Industriestadt als Verbindung von Chemischer Fabrik und den Wohnbauten mit zugehöriger Infrastruktur sehr hoch ein: „Man kann das Werk Leverkusen, als Ganzes genommen, wohl ein großes Kunstwerk nennen, wenn man den Begriff Kunst etwas weitherziger faßt, als es gemeinhin geschieht. Wenn man diesem Kunstwerk einen Namen geben wollte, so könnte nur ein Titel in vollem Ausmaße gelten: ARBEIT“. (in: Hartnauer, 1933)

Waren die Einzelteile dieses Kunstwerks auch beachtlich, blieb eine stadträumlich sinnvolle Verbindung zwischen den Siedlungen und Sozialeinrichtungen ein Problem. Wilhelm Fähler, Wiesdorfs Stadtbaumeister bis 1925 hatte dieses Manko erkannt und strebte eine Einbindung der Siedlungen in ein städtebauliches Gesamtkonzept an, zu dem auch ein echtes Stadtzentrum gehörte. Fähler war damit nicht erfolgreich, so dass dieser städtebauliche Zusammenhang zwischen Werk und Siedlungen und zwischen den Siedlungen untereinander eine bleibende Aufgabe ist.

Offensichtlich aber ist der hohe historische Wert der Einzelteile im Bayer-Siedlungswerk bis 1930. Verantwortlich dafür war auch die Bauabteilung des Unternehmens. Sie wurde 1887 bis 1922 von Ludwig Girtler geleitet. Girtler ließ sich beraten durch die im Werk Elberfeld tätigen Kollegen Bormann und Heinrich Blatzheim. In Leverkusen stand Girtler auch Baumeister Carl Ritter zur Seite. Für die mit hohen Ansprüchen gestaltete Kolonie III wären die im Büro von Georg Metzendorf tätigen Architekten Phillip Schnatz und Karl Mink zu nennen. Diese Kolonie III hängt stark zusammen mit der formalen Weiterentwicklung der von Georg Metzendorf geplanten Essener Siedlung Margarethenhöhe.

Das Zusammenspiel von Reformideen in der Gestaltung von Siedlungen zwischen 1890 und 1914 stellt den größten Wert der zudem gut und unverändert erhaltenen Anlagen dar. Die Kolonie II ist eines der besten Beispiele in Deutschland für die Ideen des malerischen Städtebaus mit geschwungenen Straßen und Wegeführungen, Einzelhäusern auf großen, durchgrünten Grundstücken, der Verwendung von viel Straßengrün, zunehmend durchkomponierte Baukörper mit lebhafter Baumassenverteilung und Verwendung von Fachwerk. Viel zu oft werden diese Gestaltelemente pauschal der Gartenstadtbewegung zugeordnet. Arbeitersiedlungen gingen den Gartenstädten voraus, so dass auch für die Bayer-Kolonie II zuerst solche Anlagen wie die Cadbury-Siedlung Bournville bei Birmingham und die Lever-Siedlung Port Sunlight bei Liverpool genannt werden müssen.

Kolonie II (Anna), Lageplan mit dem Baubestand um 1970.
Quelle: Landeskonservator Rheinland: Technische Denkmäler Arbeitersiedlungen 2, Köln 1975

Der gravierende Wechsel in den städtebaulichen Gestaltvorstellungen im Jahrzehnt von dem Ersten Weltkrieg wird in der Kolonie III anschaulich. Statt geschwungener Wege nun gerade Straßen, statt Einzelhäuser dominierten hier Reihen- und Gruppenhäuser, mit denen geschlossene Raumwirkungen zu erzielen waren. 

Beamtensiedlung und die Siedlung Eigenheim sind Beispiele für die geschlossen in der jeweiligen Anlage zusammengefassten Besserverdienenden der Unternehmen. Besonders interessant ist hier der Vergleich mit ähnlichen Anlagen: dem Kasinoviertel der Friedrich-Wilhelms-Hütte in Troisdorf, der Beamtensiedlung der Stickstoffwerke auf dem Knapsack-Hügel in Hürth, die Krupp‘sche Villenkolonie in Duisburg-Bliersheim und die Siedlung Grafenbusch der Gutehoffnungshütte im Schatten des Gasometers Oberhausen.

Die Bayer-Kolonien vor 1930 sind die herausragenden Schmuckstücke im Siedlungswerk des Unternehmens. Die nachfolgenden Anlagen erreichten nicht mehr diese historische und architekturgeschichtlich/städtebauliche Qualität. Zu nennen wären aber aus der besonders in der Nachkriegszeit umfangreiche Wohnungsbautätigkeit des Unternehmens folgende Anlagen:

  • Siedlung Köln-Flittard 1936/37 mit Einzelhäusern auf großen Grundstücken, entstanden im Kontext der seit dem Ende der Weimarer Republik angelegten Selbstversorger-Siedlungen 
  • Im Burgfeld, 1950-51 als Erweiterung der Kolonie II entstanden mit Elementen jener Blut-und-Boden-Architektur, die in der NS-Zeit propagiert wurde
  • Laubengang-Häuser in Zeilenbauweise von 1949/50 für berufstätige Frauen als westliche Erweiterung der Kolonie II (Dhünnstraße)
Laubenganghäuser in Zeilenbauweise an der Dhünnstraße, westlich der Kolonie II, Lageplan 1953.
Quelle: Bayer AG, Bayer Archives Leverkusen
  • als Punkthochhäuser 1956 ausgeführte Ledigenheime, darunter die im Auftrag der Firma Bayer durch die Kölner GAG ausgeführten  Wohnanlagen in Köln-Mülheim (Eulenbergstraße) und Köln-Buchheim (Gronauer Straße); die Leverkusener Beispiele mussten leider dem Bau der Leverkusener City weichen
  • Siedlung für Pensionäre von 1957 in Schlebusch an der Morsbroicher Straße.

Auch diese Siedlungen und Wohnanlagen sind erhalten, wurden gut gepflegt und dabei leider auch unpassend verändert sind aber im Kontext der früheren Bayer-Anlage auch sehenswert.

Walter Buschmann

Literatur

  • Deutsche Konkurrenzen, Bd. XXIX, Heft 339/40, Arbeitersiedlung in Wiesdorf
  • Geschichte und Entwicklung der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Elberfeld in den ersten 50 Jahren, Leverkusen 1918 (Böttinger Festschrift)
  • Hartnauer: Kunst in Leverkusen – Plastiken, Bauten, Gartenkunst. Zum 50. Jahrestag des Eintritts von Dr. Carl Duisberg bei den Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. am 29. Sept. 1933, Leverkusen 1933
  • Horst, Adolf: Wiesdorf, Bayer und die Kolonien. Leverkusen – Entwicklung einer Stadt, Leverkusen 1986
  • Junk, Reinhard: Die Geschichte und Entwicklung des Werkswohnungsbaus der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Werk Leverkusen von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag zur Linderung der Wohnungsnot und der Wohnungsfürsorge privater Arbeitgeber, Köln 1976 (MS) =Wiss. Arbeit, vorgelegt für die Erste Staatsprüfung für das Lehramt an berufsbildenden Schulen. Angefertigt im Seminar für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität zu Köln, Prof. Dr. Dr. F.-W. Hennig SS 1976 (Archiv Bayer)
  • Landeskonservator Rheinland: Technische Denkmäler Arbeitersiedlungen 2, Köln 1975
  • Neubauer, Hans: Der Wohnungsbau der Farbenfabriken Bayer, 1954 (Manuskr. Bayer Archiv)
  • Schmunck, Ludwig. 25 Jahre Arbeiterwohnungswesen in Leverkusen, in: Rh. Blätter für Wohnungswesen und Bauberatung, Jg. 12, 1916, S. 209-210
  • Wohlfahrtseinrichtungen der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, Elberfeld; Erläuterungen zur Ausstellung der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, Elberfeld, auf der Gewerbe- und Industrie-Ausstellung in Düsseldorf 1902, bes. S. 66-82
  • Wohlfahrtseinrichtungen der Farbenfabriken, Elberfeld-Leverkusen, Leverkusen 1910, Abschn. Unterkunft, S. 75-112
  • Wohlfahrtseinrichtungen der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, Leverkusen b. Köln am Rhein, 1922, Abschn. Unterkunft, S. 25-42
  • Wohlfahrts-Einrichtungen der Farbenfabriken vorm. Fried. Bayer & Co Werk Leverkusen, Wuppertal(Elberfeld) 1908